Mittwoch, 16. April 2014

Von der Ukraine lernen

Es klingt paradox: Von der Ukraine lernen ... Von diesem fast gescheiterten Staat, dem manche westliche und erst recht östliche Politiker gar die Existenzberechtigung absprechen. Von einer schwachen Ukraine lernen, die tatenlos zusehen musste, wie ihr ein Stück Territorium vom russischen Nachbar geraubt wurde?

Mit denkbar schlechtesten Voraussetzungen ging die Ukraine in das 21. Jahrhundert. Zwischen 1933 und 1945, das hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder eindrucksvoll ausgeführt, war die Ukraine der tödlichste Landstrich Europas. Stalin ließ die Ukrainer verhungern, Hitler erkannte im fruchtbaren Land beiderseits des Dnjeprs künftiges Siedlungsgebiet der Deutschen. In der Ukraine galt damals ein Menschenleben nicht viel, der fruchtbare Boden wurde mit dem Blut der Ukrainer, aber auch mit dem Blut der polnischen und der jüdischen Bevölkerung getränkt.
Unter sowjetischer Nachkriegsherrschaft kam das Land nicht voran ... Es verfiel in die typische östliche Stagnation, aber es war doch befriedet. Die Menschen konnten langsam wieder anfangen, ihr Leben zu leben, ihr Existenz aufzubauen und vorsichtig in die Zukunft blicken. Doch auch nach dem Ende der Sowjetunion kam für viele nicht die große Erlösung, nicht der private Aufschwung. Oligarchen bedienten sich am Volksvermögen und sorgten dafür, dass wenige reich wurden, dass viele arm blieben ...

Und dennoch haben die Ukrainer stets an die Idee einer besseren Zukunft geglaubt; sie sitzt tief im nationalen Bewusstsein. Janukowitsch hatte mit der Absage des EU-Assoziierungsabkommens weniger tatsächliche Entwicklungen blockiert als vielmehr eine Idee begraben. Seine Unterschriftsverweigerung war eine kleine Tat, die noch nicht viel geändert hatte, die in seiner negativen Präsidentschaftsbilanz kaum weiter auffiel, aber es war eine symbolische Tat, deren Wirkung er offenbar unterschätzt hatte. Die Menschen fühlten sich plötzlich von ihrer Hoffnung beschnitten – der Hoffnung, einst anerkannter Teil eines besseren, weniger korrupten und wohlhabenderen Europas zu werden. Im Putin-Russland sahen und sehen die meisten Ukrainer hingegen kein Muster für ein besseres Leben. Nur diejenigen Ukrainer, die anfällig für russische Propaganda sind, die im Einflussbereich gleichgeschalteter russischer Medien leben und die nicht zum intellektuell geprägten Bürgertum gehören, können auf Putins Versprechen reinfallen, können sich der Anbetung an die Macht hingeben und gleichzeitig die Realitäten ignorieren. Wobei die Realitäten auch für die so genannten Pro-Russen kaum mehr zu übersehen sind: Auf der Krim gibt es Probleme mit der Energie und der Lebensmittelversorgung. Flugverkehr und Postzustellung sind stark eingeschränkt. Junge Krim-Bewohner werden demnächst vom russischen Militär eingezogen ... Aber die Begeisterung für den Anschluss wurde nicht von der Vernunft gesteuert, sie war eine irrationale Machtanbetung, die stärker wog, als das Vertrauen in die eigene Kraft, die stärker wog als ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Die Grasswurzelbewegung Euromaidan hat es hingegen durch Beharrlichkeit, durch Widerstandskraft und Mut geschafft, einen zum Diktator mutierten Präsidenten zu verjagen. Der Euromaidan hat bewiesen, dass zumindest in der Kiewer Bürgerschaft, aber auch unter den Einwohnern zahlreicher weiterer Orte eine bürgerliche Kraft lauert, die ein Machthaber Janukowitsch vollkommen unterschätzt hat. Menschen hatten bei zweistelligen Minustemperaturen auf dem zentralen Platz Maidan ausgeharrt. Sie hatten sich von Wasserwerfern nassspritzen lassen und waren dennoch nicht gewichen. Sie wurden beschossen, manche verwundet – und waren dennoch geblieben. Vor allem: Sie konnten ohne einen neuen Führer handeln, sie organisierten sich selbst. Klitschko, der eine Art Sprecher der Bewegung wurde, zeigt nicht die Verhaltensmuster eines Mächtigen, dem man blind zu folgen habe. Im Gegenteil: Er wurde eher als schwach wahrgenommen, sein Verhalten wurde diskutiert, in Frage gestellt ... Gerade diese Eigenschaft, so paradox es klingen mag, ist die Stärke der Bewegung. Die Idee und die Kraft einer bürgerlichen Zivilgesellschaft, die wir vielleicht in dieser Form schon aus der Schweiz kennen, wurde ausgerechnet in der Ukraine neu begründet.

Tatsächlich kann Europa von der Ukraine, vor allem von den Bürgern, die die Euromaidan-Bewegung getragen haben, lernen. Mit der Euromaidan-Bewegung wurde in den vergangenen Monaten der Keim für ein neues, freies, besseres Europa gelegt: für ein Europa der selbstbewussten Bürger, die zur Not oder im Idealfall auch ohne Führung handeln können – zumal ohne korrupte, autoritäre oder gar verrückte Führung. Der Keim der Euromaidan-Bewegung ist derart viril, dass sich das Putin-Russland, das sich selbst in seiner Standfestigkeit bedroht sieht, nur mit grünen Männern und militärischer Drohung zu helfen weiß.

Der Euromaidan kann aber nicht nur ein Vorbild für Russland sein (genau das wird Putin fürchten), sie kann auch Vorbild für andere europäische Staaten sein, in denen sich die Bürger von Politikern wie Berlusconi verraten fühlen. Sie ist eine viel bessere Antwort auf Politikverdrossenheit als die Suche nach neuen, unverbrauchteren Autoritäten, wie sie leider derzeit in Frankreich, den Niederlanden oder auch in Ungarn zu beobachten ist.

Die westlichen „Putinversteher“ beweisen jedoch, wie sehr inzwischen den Bürgern des Westens die Werte abhanden gekommen sind. Freiheit ist für sie selbstverständlich, Rederecht ist alltäglich, sexuelle Selbstbestimmung steht nicht unter Gefahr. Für alle diese und viele weitere, inzwischen selbstverständlichen Werte muss man nicht mehr kämpfen ... Demokratie scheint, da alltäglich, ein schwächliches Konstrukt. Aber Putin! Der große Führer! Wer ihn anbetet, der kann jede eigene Verantwortung überspielen, sie schließlich ganz vergessen.

In der selbstorganisierten Euromaidan-Bewegung wurde die Verantwortung nie vergessen; die Mitstreiter mussten sie gar nach Janukowitschs Flucht unmittelbar übernehmen und Regierungsgewalt ausüben. Vermutlich werden in der Übergangsregierung zur Zeit viele Fehler gemacht, vermutlich ist sie nicht die beste Regierung, die man sich vorstellen kann, leider tendieren manche Mitglieder zu einem übertriebenen Nationalismus. Aber die Übergangsregierung setzt doch den Anspruch fort, die Zivilgesellschaft zu entwickeln – ohne auf eine autoritäre Herrschaft und ohne auf eine Machtfigur zu setzen.

Der Euromaidan hat den Europäern, die hinschauen und die begreifen wollten, gezeigt, dass man für Ziele einstehen kann und muss. Er hat den Europäern bewiesen, dass die europäische Idee viel weiter reicht als bis zum Euro oder bis zu den Verordnungen aus Brüssel. Der Kern der europäischen Idee ist das Zusammenleben unterschiedlicher Völker und Kulturen, der Austausch, das wirtschaftliche Gedeihen. Europa ist eine Größe, die ohne einen autoritären Führer auskommt, die genau so selbstregulativ sein kann wie der Euromaidan oder die Kantone der Schweiz.

Das Europabild des Euromaidans scheint weit besser und entwickelter als das Europabild der EU-Europäer. Millionen werden bei der anstehenden Europawahl Parteien wählen, die gegen Europa und gegen alle Formen der Freiheit eingestellt sind. Teile der europäischen Bevölkerung sind gelangweilt, abgestumpft, fernsehsüchtig. Sie wissen nicht mehr, wofür sie einstehen sollten. Würde Putin mit seinen grünen Männern und seiner „gelenkten Demokratie“ zu ihnen kommen, würden vermutlich viele der medienabhängigen oder shoppingsüchtigen Menschen keinen Widerstand mehr leisten.

In Russland ist die Situation ungleich dramatischer. Russen folgen überwiegend mit Begeisterung der Macht des Führers; sehr schön beschrieben in Lena Kornyeyevas Buch „Putins Reich – Neostalinismus auf Verlangen des Volkes“. Unter Jelzin hatte die Russen zwar einen Hauch der neuen Freiheit erfahren, hatten wirtschaftlichen Handlungsspielraum bekommen, doch eine Zivilgesellschaft konnte sich seitdem kaum ausbilden und wird unter Putin nicht mehr gefördert. Machtanbetung ersetzt bis heute bürgerliches Engagement.

Ausgerechnet die Ukraine, gelegen in der Mitte zwischen einem demokratiemüden Westens und einem demokratieunkundigen Osten, zeigt uns jetzt, wie konsequent Bürger für die Werte Europas eintreten können, wie sie einer Vision folgen. Uns sind die Bilder aus Kiew in Erinnerung, wie Musiker vor den vermummten Polizisten aufspielten, wie Flashmobs in U-Bahn-Schächten für die Freiheit skandierten, wie das Volk Essen und medizinische Versorgung ohne Führung, ohne Befehle organisierte ...

Wer hingegen die pro-russische Besatzer in den ostukrainischen Städten betrachtet, die durchaus Anleihen an den Strategien des Euromaidan nehmen, der erkennt das genaue Gegenteil von der Kiewer Bewegung des Jahreswechsel 2013/2014. Vermummte, dunkle Gestalten, die selbsternannten lokalen Führern folgen (die sich teilweise sogar Phantasieorden anheften, um ihre vorgebliche Autorität zu unterstreichen); es sind Gestalten, die nur die Sprache der Gewalt, ja, der Brutalität verstehen. Journalisten werden von den Besatzern bedroht und geschlagen. Auf der Krim hängen Steckbriefe in öffentlichen Gebäuden, auf denen Andersdenkende angeprangert werden (wie auch in Russland, wo Putin-Gegner diffamiert werden). In Charkow war Mitte April eine Ärztin zu sehen, die Menschen, die schwer verletzt am Boden lagen, Fusstritte gab ... Das sind Bilder eines Anti-Europas, Bilder einer dunklen Gesellschaft, gegen die sich der Euromaidan mit guten Grund entschieden hat.

Leider zeigt die Geschichte, dass das Gute nicht immer siegt, dass es meist mehrere Anläufe benötigt, bis es eine Chance bekommt. Und so kann es sein, dass die kleine Pflanze einer neuen europäischen bewussten Demokratie, die in Kiew auf dem Euromaidan gewachsen ist, von westlicher Ignoranz und östlicher Aggression im Wachsen behindert wird, dass nach 2004 auch 2014 die gewonnene Freiheit den Menschen wieder zwischen den Fingern zerrinnt. Damit das nicht geschieht, muss Europa das Vorbild der Euromaidan-Ukraine annehmen.

JAN AKEBÄCK

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