Sonntag, 27. April 2014

Stillstand aus Angst


Warum der Westen im Georgienkrieg versagen mußte

(geschrieben am 24. August 2008)


Die Kultur der Wirklichkeiten beginnt zu enden. Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird bald – so darf man vermuten – kaum mehr wissen, wie sich die Rinde eines Baumes anfühlt, er wird kaum mehr wissen wie verwesende Blätter riechen. Und er kennt immer weniger die alten Grundbedürfnisse – nach sicherer Bleibe, nach einem geschützten Garten, nach einer friedlichen privaten Umgebung.
Die Bilder aus Georgien verstören den westlichen Betrachter – es sind Bilder aus einer anderen, längst fremd gewordenen Wirklichkeit. Trotz des offenkundigen Kompetenzverlustes hat im Westen der Glaube an die eigene Weisheit nicht nachlassen. Die scheinbar allumfassende Zuständigkeit bezieht sich nicht so sehr auf die Dinge wie Blätter und Baumrinde als vielmehr auf Gefahren. Der Weltbeobachter, der allseits informierte Bürger westlicher Staaten, sieht allerorten Bedrohungen – er sieht zumindest meist negativ interpretierte Veränderungen. Bjørn Lomborg hat in seinem Buch „Apokalypse No!“ eindringlich anhand zahlreicher Beispiele nachgewiesen, dass die Menschen nur noch die Katastrophen, zumindest die kontinuierliche Verschlechterung erwarten, während tatsächlich die Welt auf nahezu allen Gebieten besser, friedlicher, sauberer und gesünder geworden ist.
Angst hat sich wie ein grauer Schleier über die Welt gelegt. Jedes Gewitter, jede Anomalie in dieser Welt, und sei sie noch so natürlich, wird als Zeichen kommender Unbill, ja, kommender globaler Katastrophen gewertet.
Ein paar Flüchtlinge oder ein paar brennende georgische oder südossetische Dörfer sind im Kontext dieser Bedrohungen wohl nur unbedeutende Randerscheinungen. Das stete Umkreisen potentieller Weltgefahren – durch die Politik, durch die Medien, durch die Wissenschaft und natürlich auch durch die Bürger in privaten Gesprächen – ist ein junges kulturelles Phänomen.
Einst waren Ängste konkreter: die Menschen hatten Angst vor ganz persönlichen Bedrohungen, vor individuellem Hunger oder vor Krankheiten. Konkrete Ängste waren beherrschbar. Wessen Vorratskammer mit Speisen gefüllt war, der braucht sich zumindest eine bestimmte Zeit lang vor dem Hunger nicht ängstigen. Und wer eine Krankheit bekam, der wußte in den meisten Fällen, wie mit ihr umzugehen war. Doch heute scheint überall auf der Welt die schreckliche, unbeherrschbare Pest ausgebrochen zu sein. Voller Angst starren die Menschen auf die Umgebung – und würden sich am liebsten gar nicht mehr bewegen. Auch die Politik wird von der Angst dominiert – die Angst, Verbündete zu erschrecken, die Angst, als zu hart oder als zu weich zu erscheinen. Im System der Angst ist das Stillstehen das richtige Verhalten. Jedes Bewegen provoziert neue Gefahren. Unverständnis löst deshalb jeder aus, der sich tatsächlich bewegt.
Sowohl Georgiens Einmarsch in Südossetien als auch Russlands Besetzung von Teilen Georgiens sind Verhaltensmuster, mit denen angstgesteuerte Menschen nicht umgehen können. Weshalb hatte Georgien keine Angst vor Russland? Weshalb hat Russland keine Angst, den Weltfrieden zu stören? Als erste Reaktion auf solch unerwartetes Verhalten entwickeln die westlichen Staaten wortreiche Beherrschungsstrategien. Beide Seiten werden in Diskussionen eingebunden, müssen Papiere unterschreiben und zukünftiges Stillstehen versprechen. Russland und Georgien sollen sich beide zurückziehen auf die Positionen, die sie vor dem Krieg innehatten. Angstbeherrschung wird durch die Negation des Krieges, durch die scheinbare Aufhebung seiner Folgen erreicht.
Tatsächlich hat sich durch den Krieg alles verändert: die Situation vor Ort genauso wie die globale. Straßen, Schienenwege und auch Naturschutzgebiete sind zerstört. Tausende Menschen haben ihr Zuhause verloren und befinden sich auf der Flucht. Das Vertrauen der Menschen untereinander ist ruiniert. Doch aus der distanzierte Sicht der Ängstlichen wird durch den Rückzug, der Stillstand meint, die Welt geheilt. Der Segen des Stillstandes, der kein Segen ist, wurde zuerst im Ersten Weltkrieg geprobt. In den Schützengräben erfuhren die Soldaten, dass jede Bewegung lebensbedrohlich ist. Aber auch das Verharren war kein angenehmer Zustand. Aus dem Schützengraben heraus konnten die Soldaten die detonierenden Geschosse beobachten.
Wie kein anderer nahm Ernst Jünger die Rolle des Beobachters an. Er schrieb eine Phänomenologie des Krieges, der stillsteht. Jünger und die Soldaten sahen nicht mehr den Feind, sondern sie sahen aus ihren Gräben die mal fernen, mal ganz nahen Explosionen; sie sahen zerstörte Wälder, umgepflügte Kulturlandschaften – und viel Blut auf dem frischen Grün der Natur. Jeder Versuch, aus den Gräben auszubrechen und vorzupreschen, führte zu noch mehr Explosionen, zu noch mehr Tod und mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod. Jedes Stillstehen, jedes Eingraben machte die Schrecken des Krieges scheinbar beherrschbar – und doch stieg die Angst vor dem unsichtbaren Feind, die Angst vor dem offenbar unausweichlichen Tod unermesslich.
Die Beobachtung des Krieges aus den Schützengräben der westlichen Zivilisation, die jeden Tag millionenfach vor den TV-Geräten stattfindet, schürt eben gerade Ängste. Man sieht das Geschehen und bekommt Angst um den Weltfrieden, Angst um die Zukunft der eigenen Kinder usw. Das unmittelbare Eingreifen in einen Konflikt scheint unmöglich, die Lösung eines Problems durch eigenes Bewegen ist der letzte mögliche Schritt, der mit allen Mitteln vermieden wird. Der russisch-georgische Krieg hat in Westeuropa nicht zu einer Solidarisierung mit Georgien geführt, sondern zu einer allgemeinen dumpfen Angst vor dem Kalten Krieg. Doch damit nicht genug. Je größer die Angst wird, um so ausführlicher nehmen sich die Medien der Thematik an. Je mehr die Menschen in ihrer Angst verharren, um so häufiger werden sie mit gestorbenen Menschen, weinenden alten Frauen und zerschossenen oder brennenden Dörfern vor ihren Fernsehbildschirmen konfrontiert. Der Versuch, die Angst durch Aufklärung zu beherrschen, mündet in immer größeren Bedrohungen, in einer zunehmenden Angst. Die „Geheimwaffe“ der Deutschen, die V-2-Rakete, erschreckte 1944 und 1945 vor allem London und Antwerpen. Dabei war es weniger die reale Zerstörungskraft als vielmehr das unheimliche Heulen, das dem Einschlag folgte, sowie die Nachrichten von möglichen und womöglich gewesenen Zerstörungen, die Anlass gaben, sich zu ängstigen oder die Wissenschaft zu bemühen. Bald schien es gleichgültig, ob die Rakete auch traf – sie tat es zumeist nicht oder kaum zielgenau. Entscheidend für die geheimdienstlichen und öffentlichen Diskussionen, entscheidend für die entstehende Angst war allein ihre nachweisbare Existenz. Das unheimliche Heulen reichte aus, um Angst und um nachfolgend Beherrschungsstrategien auszulösen. Das Modell für das System der globalen, später atomaren Abschreckung, das Modell für den Krieg der Ängste war geschaffen. Eine der technischen Strategien, um die Bedrohung beherrschbar zu machen, war die Entwicklung des Radars. Nun musste man nicht mehr auf das Heulen in der Luft warten, sondern konnte vorher das Flackern auf den Bildschirmen interpretieren. Doch jede Technik, die Angst beherrschbar macht, wird technisch hintergangen. Die amerikanischen Stealth- Bomber F-117, bereits im ersten amerikanischen Golfkrieg eingesetzt, sind auf Radarschirmen kaum noch sichtbar. Ihre Form lässt sie verschwinden – die Bedrohung für den Gegner wächst und wächst. Die Unwägbarkeit und vor allem die Unsichtbarkeit einer Bedrohung lassen diese ins Unermessliche anwachsen. Der Klimawandel ist so gefährlich, da er nicht gesehen wird. Er kommt schleichend, blendet durch schönes Wetter, durch warme Winter – und wird womöglich eines Tages mit Tornados und Tsunamis um so brutaler zuschlagen. Die modernen Kriege, die aus Angst heraus entstanden sind, werden meist gegen einen unsichtbaren Feind gekämpft. Denn vor allem die Unsichtbarkeit erzeugt Angst. Bin Laden ist für die Amerikaner unsichtbar geworden – und hat dadurch seine Gefährlichkeit so sehr gesteigert, dass die Amerikaner den Taliban in ganz Afghanistan den Krieg erklärt haben. Im Irak war die Unsichtbarkeit der schmutzigen Waffen die größte Bedrohung. Um den Krieg zu verhindern, hätte Saddam Hussein ganz sichtbar und ganz offen die gefährlichsten und die schlimmsten Waffen präsentieren sollen. Dann hätte die westliche Welt versucht, durch Drohungen und Diskussionen, durch einen überschäumende Medienberichterstattung und durch Überwachungsflüge, deren Bilder anschließend wortreich interpretiert werden, die Gefahr zu beseitigen. Für einen Krieg hätten dann vermutlich die Argumente gefehlt. Im Irak war gerade die Abwesenheit der Waffen, die scheinbare Unsichtbarkeit, der zwingende Kriegsgrund.
Das russische Militär hält sich nicht an die Spielregeln des Westens. Es platziert ganz offen und unverfroren seine Panzer in Georgien – und zieht sie nach milden Drohungen halbherzig zurück. Die offen sichtbaren Panzer, die das zivile Leben in Georgien paralysieren, wirken ganz harmlos. Die deutsche Regierung beeilte sich zwischenzeitlich, den Russen das Recht zuzugestehen, in einer Übergangszeit noch mit Militär in Georgien zu bleiben. Der russische Militärschlag gegen Georgien verstärkte eine allgemeine Angst im Westen – und gleichzeitig schwand die konkrete Angst, da die Bedrohung sichtbar wurde und scheinbar beherrschbar ist.
Russlands Präsident Putin kennt die Mechanismen und spielt mit dem Westen. Erst bewegt er das russische Militär massiv, während der Westen Stillstand erwartet und hilflos protestiert. Dann lässt er das Militär demonstrativ in Georgien stehen – und lässt die Soldaten eine friedliche Ordnungskraft spielen. Der Westen ist froh, dass alles wieder stillsteht und das alles offensichtlich ist. Die konkrete Angst des Westens und seiner Bürger nimmt wieder ab – Putin hat sein Kriegsziel, Georgien zu demoralisieren und zu demontieren, erreicht. Die große allgemeine Weltangst des Westens ist gleichzeitig gestiegen – und jeder Versuch, Putin in die Schranken zu weisen, würde noch größere Ängste hervorrufen.

NIS ASCHENBECK

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